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Einband Ovalyth IV - Neues Design 1

1

Estella

Es war der Tag nach den großen Ereignissen. Albion war rehabilitiert. Jason war geflohen. Das Geheimnis um den Orkan war zumindest teilweise gelüftet.

Estella saß an jenem Tisch im Herakleon, an dem eine knappe Woche zuvor ein lockeres Zusammensein in den feuchtfröhlichsten Abend ihres Lebens ausgeartet war. Auch heute war sie mit Raymond und Marvin verabredet. Sie blickte zum Eingang. Noch sieben Minuten und dreiundvierzig Sekunden.

Unwillkürlich lächelte sie. Die Armbanduhr an ihrem Handgelenk war nichts weiter als ein Schmuckstück. Es ersparte ihr die skeptischen Blicke, wenn sie mal wieder die Urzeit auf die Sekunde genau nannte, weil sie einfach wusste, wie spät es war – zu jeder Zeit; an jedem Ort.

Die Tür am anderen Ende des Raumes öffnete sich. Der attraktivste Blonde, den Estella jemals kennen gelernt hatte, betrat die Kneipe und nach ihm ein Dunkelhaariger, der nicht ganz so überirdisch aussah, dafür aber umso makelloser gestylt war.

Die Blicke der Frauen folgten ihnen wie zufällig; deren Begleiter bekamen es mit, hörten auf zu reden und taxierten die Neuankömmlinge mit verhaltener Aggression. Nun ja, nicht alle Männer reihten sich hier ein. Der eine oder andere war genauso fasziniert wie die Damenwelt.

Estella erhob sich und umarmte die beiden Freunde. Dank Jean hielt sie körperliche Nähe mittlerweile lange genug aus, um Normalität vorzutäuschen, ehe das Druckgefühl auf der Brust sich einstellte.

»Wie geht es dir?«, fragte Marvin und seine dunkelgrünen Augen musterten sie besorgt. »Hast du dich etwas erholen können?«

»Es geht mir sehr viel besser als am Donnerstag«, antwortete sie, bevor er womöglich den Ovalyth aus dem Ausschnitt seines blendend weißen Hemdes zog, um ihre Vitalwerte zu überprüfen.

»Was nicht schwierig ist, denn am Donnerstag ging es dir ziemlich dreckig«, sagte Raymond.

Sie senkte den Blick und schaute auf ihre Hände. »Manchmal kann man über die Dinge, die einen belasten, nicht reden, und man möchte es auch nicht.«

»Ist das der Grund, weshalb ich bei jeder Umarmung deine Abwehr spüre?«

Natürlich hatte er das Theater, das sie ihm im Krankenzimmer vorgespielt hatte, durchschaut. Er war ein SD7. Auch bei ihr hatten sich die sensorischen Fähigkeiten seit Erreichen dieser Stufe kontinuierlich verstärkt.

»Neikos hat meinen Geist geschändet«, sagte sie und fragte sich, warum sie darüber ausgerechnet an einem kleinen, runden Tisch in einer spärlich besetzten Kneipe sprechen konnte.

Marvins Augen weiteten sich. »Was bedeutet das, Estella?«

Sie blinzelte die Tränen weg, die sich nun eine Etage tiefer in ihrer Kehle sammelten und sie verschlossen. Trotzig erkämpfte sie sich ihre Stimme zurück.

»Ich habe euch doch von Jeans Urschatten erzählt, den ich auf seine Heimatwelt zurückgebracht habe und der mir zum Dank einen Teil seines Wissens überlassen hat, auf das ich in Gefahrensituationen zugreifen kann.« Sie schluckte nochmals schwer. »Neikos hat das Gleiche getan, nur gegen meinen Willen. Er hat mir sein verderbtes Mochthiriawissen aufgezwungen. Sobald ich es ein einziges Mal benutze, beginnt Neikos‘ Bosheit meine Seele zu vergiften. Dann wird aus einer wunderschönen roten Rose eine schwarze, noch schönere, wie Neikos es ausdrückte.«

»Oh Estella!«, sagte Marvin.

Raymond ergriff ihre andere Hand. »Es tut mir so leid!«

Beide ahnten, dass Estella keine Details preisgeben wollte, und fragten nicht nach.

»Du bist stärker als Neikos«, sagte Raymond.

»Ich weiß«, antwortete sie.

Etwas an der Art, wie sie es sagte, ließ Raymond aufmerken.

»Welchen Deal hat Neikos dir angeboten?«, fragte er.

»Was glaubst du?«, flüsterte sie.

Auch Marvin wurde blass. »Du hättest den künstlichen Geist verlassen können, und du hast abgelehnt?«

»Ich wollte nicht so werden wie er.«

»Du wirst niemals so werden wie er! Du wirst immer eine rote Rose bleiben.«

»Komm her«, sagte Raymond und zog sie in seine Arme.

Wie schon Tage zuvor bei Jean ließ sie sich auf die Nähe ein. Es tat gut, Raymonds feste Muskeln durch das T-Shirt zu spüren, seinen Duft nach frischer Dusche einzuatmen und sich in seinen Kokon aus positiven Emotionen einzukuscheln.

Nein, das tat es nicht!

Ihre Blockaden lösten sich zu schnell, zu unkontrolliert. Sie konnte das nicht aushalten.

»Bitte!«, keuchte sie und stieß Raymond von sich.

»Verzeih, das war gedankenlos von mir«, sagte er und dann sanfter: »Geht es wieder?«

»Mach dir keine Sorgen. Es klingt bereits ab.«

Jemand räusperte sich. »Entschuldigung. Was kann ich euch bringen?«

Raymond hob den Blick. »Drei Kaffee und drei Korn, bitte.«

Estella probierte ein Lächeln. »Das ist ja mal eine Zusammenstellung!«

Marvin griff wieder nach ihrer Hand und platzierte einen federleichten Kuss auf der Innenseite. »Sag, was du brauchst, und du bekommst es.«

Sie schaute in seine dunkelgrünen Augen, dachte an seine zurückhaltende, verständnisvolle Art, an seine Tapferkeit und an seine Loyalität, die auch dann bestehen blieb, wenn es richtig dick kam. Sie ließ ihren Blick zu Raymond schweifen, diesen blonden Adonis mit dem offenen Lächeln, der unkomplizierten Art, der Fähigkeit zur uneigennützigen Liebe.

»Ich möchte einen wie euch in Hetero. Egal, welchen von euch beiden.«

»Bist du sicher?«, fragte Raymond und schenkte ihr eines dieser Lächeln, die ihr das Herz aufgehen ließen.

»Absolut«, sagte sie.

Marvin behielt ihre Hand in seiner. »Weißt du, was wir einander letztens gestanden haben?«

Lächelnd verneinte sie.

»Wenn wir beide hetero wären, würden wir uns um dich prügeln.«

»Das wäre nicht nötig«, sagte Estella, »ich würde euch beide nehmen.«

»Ich glaube, mit Marvin könnte ich dich sogar teilen.« Raymond wurde wieder ernst. »Wer weiß noch davon, Estella?«

Sie verzichtete darauf, seine Frage falsch zu verstehen und mit einem Scherz zu antworten.

»Niemand«, sagte sie. Sie hatte es noch nicht einmal Jean erzählt. Jenem Freund, dem sie all die schlimmen Dinge an den Kopf geschleudert hatte und der sich trotzdem so rührend um sie kümmerte.

Die Bestellung traf ein. Estella kippte den Korn die Kehle hinunter. Es war scharf, es brannte, es tat gut.

Raymond ließ seinen Schnaps unberührt. »Du brauchst eine professionelle Betreuung durch einen Sender. Du kannst das nicht allein verarbeiten. Und ich kann dir nicht helfen, weil ich ab morgen wieder im Bielefelder Institut bin.«

Er hatte recht. Trotzdem war es unmöglich, denn dann musste sie es Kristiana oder Albion erzählen. Und zwar alles. Das ging einfach nicht. Sobald die Erinnerung an die Oberfläche gelangte, würde Estella die Schändung in allen Einzelheiten wiedererleben. Sie konnte da nicht noch einmal durch. Nicht so kurz danach.

»Gebt mir ein wenig Zeit. Ich muss mir genau überlegen, was und wie ich es tun werde.«

»Natürlich. Nur du kannst das entscheiden«, sagte Raymond.

Marvin lächelte aufmunternd. »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, rufe uns an. Wir sind immer für dich da.«

Raymond schob Estella seinen Korn herüber. »Magst du ihn haben?«

Sie zog das Glas zu sich heran und strich mit Daumen und Zeigefinger über die Oberfläche. Es war so angenehm glatt und kühl, aber es enthielt nicht die Lösung ihrer Probleme. Sie stellte es zur Seite.

 »Neikos berichtete mir übrigens, was vor sechs Jahren mit dir geschah, als du die Urschattenbefreiung versuchtest. Du musst umwerfend gewesen sein.«

»Aber sicher!«, erwiderte Raymond und diesmal war sein Lächeln bitter. »Deshalb musste Marvin auch anschließend Dutzende von Urschattenkomas hinter sich bringen.«

»Ich meine es ernst«, widersprach Estella ihm sanft. »Ich erzählte euch doch von den Fließenden, die es beinahe geschafft hätten, mir meinen Willen zu nehmen. Neikos hetzte sie auch dir auf den Hals, doch sie hatten keine Wirkung auf dich. Er sagte, du hättest ihre Stimmen einfach ausgeblendet. Daraufhin startete er eine Geistesbezwingung. Du wehrtest dich wie besessen. Schließlich musste er die Stärke derart erhöhen, dass dein Koma ausgelöst wurde. Du hast ihm widerstanden!«

Raymonds Miene spiegelte Ungläubigkeit wider, die sich scheu in Hoffnung verwandelte.

»Du bist nicht einen Millimeter gewichen«, versicherte Estella noch einmal. »Du hast Neikos die Stirn geboten. Du hast einem Mochthiria widerstanden.«

Marvins Hand glitt über den Tisch und schob sich über die seines Freundes. Die Blicke der beiden Männer verfingen sich ineinander, so aufrichtig, so voller Liebe. ›Du bist der Richtige‹, sagten sie. ›Du wirst es immer sein.‹

Estella erhob sich so lautlos, wie es ging.

Marvin bekam es mit. »Wage es nicht, dich zu verziehen und uns hier sitzen zu lassen!«

Auch Raymond lächelte. »Wir sind deinetwegen hier. Einander haben wir die ganze Woche.«

»Ich wollte nur kurz aus dem Weg gehen, um euch nicht zu stören«, sagte Estella und setzte sich wieder hin. »Darf ich euch als Wiedergutmachung ein Tomate-Mozzarella-Baguette ausgeben? Die sind hier einfach genial.«

»Nein, das darfst du nicht. Wir haben dich für heute eingeladen.« Raymond gab dem Kellner ein Zeichen. »Drei Tomate-Mozzarella-Baguettes, bitte.«

Eine Viertelstunde später meinte er kauend: »Das ist wirklich gut.«

Marvin tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Allerdings!«

Der Naturbursche und der Gesittete, so hätte Estella die beiden in diesem Augenblick beschrieben.

Marvin sah es ähnlich. »Raymond könnte mit zwanzig Wikingern zusammen am Feuer hocken, vom Mund bis zu den Wangen alles fettig vom Wildschweinbraten, und er wäre immer noch sexy.«

Raymond grinste. »Und du würdest dir Besteck kommen lassen und um zwei Uhr nachts noch wie aus dem Ei gepellt aussehen.«

Marvin präsentierte seine Hände. »Ich esse gerade mit den Fingern«

»Ich bin sehr stolz auf dich«, gab Raymond lachend zurück und wandte sich an Estella. »Du hast uns noch gar nicht die heißen Neuigkeiten berichtet.«

Sie zuckte die Achseln. »Albion ist aus dem Schneider und Jason ist verduftet.«

»Und nun die lange Version«, bat Raymond.

Sie legte ihr Baguette zurück auf den Teller. »Die Abtrünnigen haben einen Ovalyth so verändert, dass Jason mit ihm arbeiten kann. Fragt mich nicht, wie sie das hinbekommen haben, aber der Kristall hat Jasons Fähigkeiten um ein bis zwei Stufen verstärkt. So konnte er Ansgar und auch die Sender in Australien re-initialisieren; die vier Sender, die den Jemazur damals angelockt hatten.«

»So lange arbeitet Jason bereits für die Abtrünnigen?«, fragte Marvin.

»Mindestens«, bestätigte Estella. »Vielleicht hatte er uns schon verraten, bevor er in den Empathenrat gewählt wurde. Keiner kann das sagen.«

»Und warum hat er den Riss noch nicht erzeugt?«, fragte Raymond. »Als ehemaliger Wächter kann er es doch.«

Das hatte sie sich auch überlegt. Sie senkte die Stimme noch ein wenig mehr. »Möglicherweise funktioniert der Stein im Freien Raum anders und Jason muss erst lernen, ihn dort einzusetzen.«

Auch Raymond flüsterte nun. »Was schwierig werden dürfte, denn dann hat er sofort das Wächterkorps auf dem Hals.«

»Genau. Bis er mit dem Stein im Freien Raum umgehen kann, ist er dort nichts weiter als ein SD9, maximal ein SD10. Das reicht nicht aus, um gegen die Wächter anzukommen.«

Raymond kräuselte die Stirn. »Wieso SD10?«

»Jason hat sich am Examen versucht. Allerdings vergeigte er den Ethikteil und kam gar nicht erst bis zur praktischen Prüfung.«

Raymond nickte wissend. »Und die Re-Initialisierung an Ansgar war ein Racheakt, weil der ihn durchfallen ließ.«

»Es scheint eher so zu sein, dass Jason versuchte, eine von Ansgars Mitarbeiterinnen zu erpressen, ihm die Prüfungsaufgabe für die Wiederholungsprüfung zu besorgen. Sie vertraute sich Ansgar an, und der wollte Jason auffliegen lassen. Das musste Jason verhindern. Also hat er Ansgar re-initialisiert.«

»Und die Mitarbeiterin?«

»Die hat sich gerade noch rechtzeitig abgesetzt. Leider so, dass selbst Ronin sie nicht finden konnte. Um Jason aus der Reserve zu locken, gaukelte Ronins Freundin ihm vor, Ansgars Mitarbeiterin würde am Sonntag, also gestern, nach Berlin zurückkehren. Unglücklicherweise fand Jason heraus, dass Ronins Freundin auf Belision eine Ausbildung zur Sensorin ableistet. Das passte nicht zu ihrer Under-Cover-Identität als Ovalanerin.«

»Aus, die Maus!«, sagte Raymond.

So konnte man es auch ausdrücken.

»Auf Belision griff Jason Susanne an. Leonidas und Daniela kamen ihr zu Hilfe, doch Jason bombte die beiden vom Feld. Erst Iris und zwei der Assistenten konnten ihn in die Flucht schlagen.«

Raymond stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. »Leonidas ist Dozent für Mentale Angriffe. Vertretungsweise trainiert er sogar die Wächterteams.«

Woher wusste er das denn?

»Ich möchte spätestens mit Ende dreißig Wächter sein«, beantwortete Raymond ihre unausgesprochene Frage. »Nächste Woche habe ich meine Prüfung zum SD8 und dann geht es so schnell wie möglich weiter.«

Marvin lächelte. »Noch kannst du deine Eltern überflügeln.«

Estellas fragende Miene entging Raymond nicht. »Meine Eltern waren beide im Wächterkorps. Meine Mutter war Anfang vierzig und mein Vater Mitte vierzig, als sie Wächter wurden.«

»Waren sie im selben Team?«, fragte Estella.

»Nein, sie haben sich aufgeteilt. Meine Mutter gehörte als Senderin dem WT11 an und mein Vater als Sensor dem WT15.« Raymond lächelte. »Einer von ihnen musste schließlich zu Hause auf mich aufpassen. Da boten sich die unterschiedlichen Wächterschichten an. Ein bisschen was erzählten meine Eltern natürlich von ihren Erlebnissen, auch wenn sie über die wichtigen Dinge Stillschweigen bewahren mussten. Trotzdem hat es mich so beeindruckt, dass ich schon früh davon träumte, in ihre Fußstapfen zu treten.«

Die Dimensionen schützen. Auch Estella hatte einst auf dieses Ziel hingearbeitet. Dann hatte sie versucht, Lukas vor der Re-Initialisierung zu bewahren und hatte damit eine regelrechte Hexenjagd der Mitarbeiter der Zentralverwaltung gegen sich heraufbeschworen.

Sie spürte das altbekannte Kribbeln in der Magengegend.

»Ist etwas?«, fragte Raymond.

Sie würde ihm seinen Traum nicht vermiesen, indem sie ihn mit ihren Befindlichkeiten behelligte.

»Nein«, sagte sie. »Ich mache mir nur ein wenig Sorgen um Leonidas. Er liegt immer noch auf der Krankenstation. Normalerweise müsste er sich längst erholt haben. Niemand kann sich erklären, wie Jasons Ovalyth ihn so schwächen konnte.«

Unbewusst schüttelte Raymond den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie das mit dem Ovalyth überhaupt funktioniert. Im Laufe der Jahre habe ich immer mal wieder versucht, eine Verbindung zu Marvins Ovalyth aufzubauen. Ich hätte genauso gut versuchen können, zu meinem Schuhriemen Kontakt zu bekommen.«

»Es muss am Schliff liegen«, sagte Marvin. »Sie haben einfach so lange herumprobiert, bis sie ihn hinbekommen haben.«

»Um einen Ovalyth für Sender herzustellen?«, fragte Raymond. »Dieselben Abtrünnigen, die uns Sender hassen wie die Pest?«

Auch Estella begriff die Zusammenhänge nicht.

Hatte Jason dem Ersten den Dimensionsriss angeboten, um an den Ovalyth heranzukommen? Aber wie sollte er denn von dessen Existenz erfahren haben?

Oder hatten die Abtrünnigen Jason mit dem Ovalyth geködert und die Re-Initialisierungen als Preis gefordert?

Unsinn! Duncan hatte keine Hemmungen, wen auch immer aus dem Weg zu schaffen. Die Re-Initialisierungen waren nicht der Grund. Sie waren ein Nebenprodukt. Möglicherweise ein Test.

Estella hob den Blick. »Sie müssen es vorher gewusst haben. Die Abtrünnigen müssen vorher gewusst haben, dass wir Sender Risse erzeugen können. Das war der Grund, weswegen sie Jason rekrutiert haben. Er war das Ass im Ärmel, falls es mit dem Jemazur nicht klappen sollte.«

»Und nun ist die Zeit gekommen, das Ass aufzuspielen.« Raymond stieß seinen leeren Teller zur Mitte. »Ich hätte mich nicht so verzetteln dürfen, dann stünde ich bereits kurz vor dem SD9.«

»So etwas kann man nicht über den Zaun brechen«, sagte Marvin. »Nur die wenigsten Sender sind unter vierzig, ehe sie die Wächterausbildung beginnen. Du bist gerade mal Mitte dreißig.«

Estella hörte nur mit halbem Ohr zu. Etwas stimmte nicht. Etwas in ihrer Innenwelt war anders.

»Manni?«, fragte sie leise.

Raymond blickte auf. »Was ist los?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie. »Ich spüre die Präsenz meines Wissenshüters nicht mehr.«

»Ist das vorher schon einmal passiert?«, fragte Raymond.

»Nein, bis jetzt nicht.« Estella spürte noch einmal nach. Das Gefühl der Leere auf der neunten Ebene war immer noch da. »Ich kann nicht nachschauen. Nicht, bevor der Fließende aus meiner Innenwelt verschwunden ist.«

»Und wann wird das sein?«, fragte Raymond.

»Morgen Nacht.«

Marvin ahnte einmal wieder, was sie dachte.

»Warte so lange ab! Du kannst gegen einen Fließenden nicht gewinnen. Dein Wissenshüter kann sicherlich gut auf sich selbst aufpassen. Versprich mir, dass du nichts Unbedachtes tust.«

Er hatte ja recht. Fjorr war ihr an Macht haushoch überlegen, auch wenn er erst die Reife eines Kindes besaß. Gewiss würde sie ihn kein zweites Mal überlisten.

»Ich verspreche es dir.« Sie lächelte. »Was haltet ihr von einem weiteren Kaffee? Ich könnte noch einen vertragen.«

 

2

Manni

Manni betrachtete sich im Spiegel. Selbst jetzt, eine Stunde, nachdem er Estellas Herzenskammer verlassen hatte, war sein Blick immer noch verklärt und seinen Mund zierte ein dümmliches Grinsen. Er war wieder einmal zu lange am Weißen Quell geblieben.

Anfängerfehler!

Manni schaltete den Holospiegel aus und lief zum Kommunikationsraum des Wissenshüterkomplexes. Der wöchentliche Bericht war fällig. Diesmal bestand Mannis Mentaldatei nur aus einem einzigen Satz: ›Keine besonderen Vorkommnisse seit meinem außerordentlichen Bericht vor vier Tagen.‹

Er stellte sich unter die Energiekuppel, spaltete einen Teil seines Partialbewusstseins ab, flutschte durch das kreisförmige Deckenportal und glitt in den Mentalen Raum. Alles hier war gedrungener als im Freien Raum. Die Strecken waren kürzer, die Portale kleiner. Auch das Artefakt, das nach kurzer Zeit in Sicht kam, war winzig im Vergleich zum Neondreieck, das die Sender benutzten, um ihre Dimensionsrisse zu schaffen. Eine armlange, neongelbe Platte, deren Oberflächenstruktur der einer Tafel Schokolade ähnelte. Vierundzwanzig Andockpunkte, aufgeteilt auf vier horizontale Reihen, gruppierten sich um ein kleines, rundes Loch in der Mitte. Siebzehn der Andockstellen waren aktiviert, eine davon bereits wieder verwaist. Eine Wissenshüterin, die ihre Zelte abgebrochen hatte und nach Hause zurückgekehrt war.

Noch ein Mitglied seiner Zunft, das versagt hatte.

Manni verdrängte den Gedanken und steuerte auf die Andockstelle mit der grün leuchtenden Nummer siebzehn zu. Er platzierte seine Mentaldatei im Fach links für die Hesperiden und überprüfte den Nachrichtenspeicher seines Privatfachs rechts.

Seltsam! Sein Hauptbewusstsein hatte ihm auf seine Notiz vor vier Tagen nicht geantwortet. Allerdings pulsierte der Nachrichtenspeicher des Hesperidenfachs. Manni rief die Mitteilung ab.

Sein Partialbewusstsein wurde in seiner Gesamtheit umgehend auf Phyteria erwartet. Keine weitere Erklärung. Noch nicht einmal eine Info, welcher Ersatzhüter ihn vertreten würde, solange er fort war.

Wie stellten die Hesperiden sich das vor? Er konnte doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen! Was, wenn gerade jetzt ein Notfall eintrat?

Der Nachrichtenspeicher pulsierte schon wieder. Manni öffnete auch diese Mitteilung.

›Der Übergang ist umgehend zu initiieren!‹

Die Anweisung war eindeutig. Manni nahm Kontakt zu seinem Refugium auf. Der Teil seines Partialbewusstsein, den er in Estellas Innenwelt gelassen hatte, folgte der Order der Hesperiden, traf beim Artefakt auf ihn und verschmolz mit ihm.

Manni wartete einen Moment, bis er sich wieder als Einheit fühlte, ehe er sich vor dem Dimensionsloch des Artefakts postierte; ein münzgroßes Loch, welches das Partialbewusstsein ausgewachsener Frauen und Männer verschluckte und auf der anderen Seite wieder ausspie.

Manche Dinge vereinfachten sich ungemein, wenn man seinen physischen Körper nicht mitschleppen musste. Andere Dinge wurden unmöglich. Manchmal sehnte Manni sich nach diesen unmöglichen Dingen, auch wenn er sich für das Leben, das er führte, ganz bewusst entschieden hatte.

Er zögerte immer noch und starrte das Dimensionsloch an. Die Wissenshüter nannten es den Flaschenhals, weil man glaubte, durch den engen Hals einer Flasche gezogen zu werden. Viele Reisende fürchteten, keine Luft mehr zu bekommen oder gar darin stecken zu bleiben. Verschollen im Mentalen Raum. Mitten im Nichts. Es spielte keine Rolle, dass es bislang niemandem passiert war. Das Unbehagen blieb.

Manni atmete durch und kappte die Verbindung zum Andockpunkt. Augenblicklich saugte das Loch ihn in sich hinein. Sein Gehirn wurde zusammengequetscht, sein Hals, sein Brustkorb. Manni zählte. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Bei dreiundzwanzig war der Druck bei den Oberschenkeln angelangt. Bei fünfundzwanzig entließ der Sog ihn in die Dimension der Urschatten. Deren Portal kam in Sicht. Manni passierte es und schwebte hinab in das hell erleuchtete Kommunikationszentrum der Hesperiden.

Sobald seine Füße die Andockkreise am Boden berührten, spaltete er einen winzigen Teil seines Partialbewusstseins ab, jagte ihn durch das zweite Portal in die entgegengesetzte Region des Mentalen Raums und dann weiter zum Artefakt, welches Phyteria mit seiner Heimatwelt verband. Nochmals stellte er sich einem Flaschenhals, schoss weiter durch den Mentalen Raum und erreichte das Portal, das ihn in den Kommunikationsraum seines Hauptbewusstseins brachte.

»Was ist los?«

»Keine Zeit für Erklärungen‹, antwortete sein Hauptbewusstsein. »Mach dich auf den Aufprall gefasst! Lass dir nichts anmerken!«

In der nächsten Sekunde prasselte eine Flut von Bildern auf Manni ein. Bilder, die Dinge beschrieben, die nicht sein konnten!

»Sei vorsichtig«, mahnte ihn sein Hauptbewusstsein zum Schluss. »Vertrauliche Nachrichten nur noch mit dem 24er-Code.«

Was? Woher sollte er den denn –?

»Geh jetzt«, drängte sein Hauptbewusstsein. »Sie werden bereits misstrauisch sein.«

Manni sah zu, dass er zurückkam. Im Kommunikationszentrum der Hesperiden knallte er regelrecht hinein in den Rest seines Partialbewusstseins, das immer noch mit den Füßen in den Andockkreisen auf ihn wartete.

»Ich grüße dich!« Eine jüngere Urschattenfrau, deren dunkelbraune Haut den typischen violetten Schimmer der Hesperiden zeigte, trat zu ihm.

Er senkte ebenfalls respektvoll den Kopf. »Ich grüße dich.«

»Schön, dass du so schnell zu uns kommen konntest. Ich heiße Fermentera. Du befindest dich in meiner Innenwelt. Ich habe die letzte Novizin abgelöst. Der Wechsel geschah erst vor wenigen Tagen. Wenn noch nicht alles so eingerichtet ist, wie du es gewohnt bist, sei bitte nachsichtig mit mir.« Sie deutete auf die Andockkreise. »Hat sich deine Erscheinung stabilisiert? Meine Herrin möchte mit dir sprechen.«

»Ich bin bereit«, antwortete er und löste sich von den Andockpunkten.

»Dann folge mir bitte.« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern lief voraus.

Das Schwindelgefühl war stärker als sonst. Der Schemen vor Manni verschwamm zur Unkenntlichkeit.

Fermenteras Stimme drang dumpf und wie aus weiter Ferne zu ihm. »Fühlst du dich nicht gut?«

»Doch! Es ist alles in Ordnung«, antwortete er mit seltsam fremder Stimme. Erneut packte ihn ein heftiges Schwindelgefühl. Seine Hand griff ins Leere.

* * *

Manni erwachte auf einem rechteckigen, gelb leuchtenden Energieblock im Zentrum einer Höhle, die aussah, als seien die Felswände und der unebene Boden mit hochglänzender, dunkelbrauner Farbe lackiert worden.

Ruckartig setzte er sich auf.

»Sachte!«, sagte Fermentera. »Du warst lange bewusstlos.«

»Was tue ich hier?«, fragte er, während er die Daten, die von seinem Hauptbewusstsein in seinen Verstand gepresst worden waren, zu Ende verarbeitete und Zusammenhänge deutete, Motivationen begriff und Ziele erkannte.

»Dein Partialbewusstsein hatte einen Schwächeanfall. Wir haben dich stabilisiert.«

»Das meinte ich nicht.« Manni wies auf den gelben Energieblock unter seinem Körper. »Was tue ich hier?«

»Es war der nächste freie Raum, der eine Liegemöglichkeit aufwies. Ich hoffe, es geht dir besser. Meine Herrin wird gleich zu dir kommen.«

»Nicht hier!«, sagte Manni.

»Euer Gespräch wird nicht lange dauern.«

Manni stieg von dem Energieblock herunter. »Nicht hier!«

Die Novizin wich einen Schritt zurück. »Wie du wünschst!«

Sie führte ihn hinaus und ein paar Türen weiter in einen Raum mit einem Tisch und mehreren Sesseln.

»Warte bitte einen Augenblick. Ich werde meiner Herrin Bescheid geben, wo du bist.«

»Danke!«, antwortete er und blieb stehen.

Es dauerte keine Minute, da öffnete sich die Tür und eine ältere Urschattendame betrat den Raum. Manni erkannte sie sofort.

Die Anführerin der Hesperiden bemühte sich in die Innenwelt einer Novizin, um mit einem einfachen Wissenshüter zu sprechen!

»Ich heiße Persephone«, sagte sie und deutete auf den Sessel, der Manni am nächsten stand. »Aber setze dich doch. Sicherlich bist du noch sehr erschöpft.«

Manni ignorierte den Affront, setzte ein Lächeln auf und senkte den Kopf in Ehrerbietung. »Ich grüße dich!«

Selbst jetzt deutete Persephone nur ein Nicken an. »Ich grüße dich! Du hättest dein Partialbewusstsein nicht aufspalten sollen, um dein Hauptbewusstsein zu kontaktieren.«

Manni lächelte kühl. »Ich fand keine Nachricht im Privatfach und habe mir Sorgen gemacht.«

»Dein Schwächeanfall hat uns fast einen ganzen Tag gekostet! War dir nicht bewusst, wie erschöpfend ein Dimensionsübergang für die Abspaltung sein kann?«

»Warum bin ich hier?«, fragte Manni. »Meine Wissensträgerin ist zurzeit ohne Betreuung.«

Persephone maß ihn mit kaltem Blick. »Du benötigst einige Informationen, deren Bekanntgabe keinen Aufschub duldet. Meine Novizin erzählte mir, du hättest auf einem Standortwechsel bestanden?«

Manni sah ihr in die gleißend gelben Augen. Sie passten nicht zum unnatürlich intensiven Violettschein der Haut. Das Ganze wirkte aufgesetzt, wie bei den älteren Angehörigen mancher Spezies, die mit auffälligem Kopfschmuck oder silbrig schimmernden Roben von den Falten im Gesicht abzulenken versuchten.

»Es wurde keine offizielle Befragung angesetzt.«

»Das ist korrekt«, gab Persephone zu. »Doch sei versichert, man kann auf dem gelben Quader auch einfach nur sitzen und miteinander reden. Kein Grund, überzureagieren. Oder fühlst du dich bedroht?«

»Wir sollten uns an die Verträge zwischen unseren beiden Kasten halten«, antwortete Manni.

Persephones Miene versteinerte. »Wie du wünschst.«

»Ich vermute, Neikos ist zwischenzeitlich auf den Planeten der Verdammnis verbracht worden?«

»Aus diesem Grund bist du hier. Wir haben ein Problem. Es betrifft Neikos‘ Wissen, das er bei der Senderin gelassen hat, die du betreust.« Nochmals deutete Persephone auf den Sessel ihr gegenüber.

Manni nahm Platz. »Ohne Wissenshüter kann das Wissen nicht freigesetzt werden. Es wird keine Probleme geben.«

»Wir sehen es anders«, sagte Persephone. »Wir können Neikos‘ Wissen nicht unbeaufsichtigt in der Innenwelt einer Senderin lassen. Wir können es auch nicht extrahieren, da wir der Senderin dann die Erinnerungen nehmen müssten.«

»Dann werde ich das Wissen unter Verschluss halten«, sagte Manni.

»Wir brauchen jemanden vor Ort. Du kannst nicht am Weißen und am Schwarzen Quell gleichzeitig weilen. Heute Morgen haben wir jemand anderen zum Schwarzen Quell beordert. Wir konnten nicht mehr länger warten.«

Persephone blickte schon zum dritten Mal auf die Innenseite ihres Flügels. Sie wirkte angespannt. Sie missachtete jegliche Etikette. Der unverzeihliche Formfehler bei der Begrüßung. Der Affront, Manni in einen offiziellen Befragungsraum zu stecken. Die Weigerung, sich dafür zu entschuldigen. Das war nicht nur die Arroganz von jemandem, der rangmäßig weit über dem anderen stand. Das war die Abgeklärtheit von jemandem, für den der andere die Bedeutung verloren hatte.

Eine Novizin betrat den Raum und präsentierte Persephone eine Tafel. Ein erleichtertes Lächeln huschte über Persephones Züge. Als sie mit dem Flügel über die Tafel wischte, blitzte etwas an der Unterseite auf.

Ein Zeitmesser. Persephone hatte immer wieder die Uhrzeit kontrolliert, und nun lehnte sie sich entspannt zurück.

Wie hatte Manni nur so dumm sein können? Die Hesperiden hatten den Nachrichtenspeicher seines Privatfachs gelöscht, damit er den direkten Kontakt zu seinem Hauptbewusstsein suchte. Den darauffolgenden Schwächeanfall hatten sie lediglich gezielt ausdehnen müssen, und schon hatten sie die Zeit gewonnen, die sie brauchten.

Ein Tag, um das Refugium aufzubauen!

Der zweite Wissenshüter war nicht erst am Morgen in Estellas Innenwelt gereist. Wahrscheinlich war er gestartet, sobald man Manni bewusstlos zum gelben Quader geschafft hatte. Und nun war das Refugium am Schwarzen Quell so gut wie fertiggestellt, und der zweite Wissenshüter würde schon bald im Vollbesitz seiner Macht sein.

Manni zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Selbstverständlich obliegt es dir, zu verfahren, wie du es für richtig erachtest. Verzeih bitte meine unangemessene Forschheit. Ich werde meinen Kollegen auf der neunten Ebene willkommen heißen. Ich bin sicher, er wird gute Arbeit leisten. Darf ich nach seinem Namen fragen?«

Persephone deutete ein Achselzucken an. »Ich kann mir einfach keine Namen merken. Am besten fragst du Fermentera. Sie ist eine wandelnde Datenbank.«

Manni wartete, bis Persephone sich erhob.

»Ich danke dir für die Information«, sagte er. »Wünschst du ab jetzt Berichte in kürzeren Zeitabständen?«

»Nein, verfahre bitte weiter wie gehabt. – Ach ja! Wir sind etwas besorgt über den Erinnerungsführer. Der Jemazur hat da eine ungewöhnliche Wahl getroffen.«

»Der Erinnerungsführer hat mich gerettet, nachdem der Mochthiria mir die Lebensenergie entzogen hatte. Wäre er nicht gewesen, würde ich möglicherweise nicht mehr leben.«

»Ja, das hattest du in deinem Bericht erwähnt. Trotzdem solltest du dich von dem Erinnerungsführer fernhalten. Wir sollten keine unliebsamen Überraschungen riskieren.«

Manni gab sich demütig. »Sicherlich hast du recht. Ich werde sehr vorsichtig sein.«

»Ich fürchte, das wird nicht ausreichen. Meide strikt seine Gesellschaft.« Ihre Pupillen verengten sich zu schwarzen Schlitzen. »Ich würde mich gerne auch weiterhin auf deine Zuverlässigkeit verlassen können.«

»Natürlich. Die dritte Ebene ist ohnehin nicht mein angestammter Bereich. Dabei werde ich es belassen.«

Die Pupillen kehrten zu ihrer runden Form zurück. »Schön, dass wir uns verstehen.«

Manni hielt den Arm ausgestreckt und die Handfläche nach oben. »Lebe stets im Hier und Jetzt.«

Persephone drehte sich zurück. »Lebe stets im Hier und Jetzt.«

Erneut ließ sie ihn einfach stehen und rauschte aus dem Raum.

Draußen auf dem Gang wartete die Novizin von vorhin auf ihn. Er sparte es sich, nach Fermentera zu fragen oder nach dem Namen des Wissenshüters. Sobald Persephone außer Sichtweite war, begann er schneller zu laufen.

»Ist etwas?«, fragte die Novizin.

»Meine Wissensträgerin ist seit einem Tag ohne Betreuung.«

»Oh!«, sagte sie und beschleunigte ebenfalls die Schritte. »Dann müssen wir uns sputen.«

Im Kommunikationszentrum brachte Manni die Verabschiedung so schnell hinter sich, wie es die Höflichkeit gestattete. Auch zum Portal schwebte er in angemessener Geschwindigkeit. Sobald er es passiert hatte, schoss sein Partialbewusstsein zum Artefakt und warf sich in den Sog. Diesmal spürte er den Druck kaum. Trotzdem schienen die fünf Sekunden sich zu Minuten zu dehnen.

Auf der anderen Seite dockte er am Punkt siebzehn an. Der Andockpunkt achtzehn war immer noch frei. Neunzehn bis vierundzwanzig ebenfalls.

Obwohl Manni damit gerechnet hatte, fühlte er sich, als hätte man ihm das Herz in den Abgrund gestoßen.

* * *

Estella

Estella wusste nichts von Mannis Nöten. Sie hatte eigene Probleme. Albion stand draußen auf dem Gang.

»Irgendwie sagte mir mein Instinkt, du würdest nicht erpicht darauf sein, mich zu sehen«, erklärte er in seiner gewohnt direkten Art. »Da ich also nicht davon ausgehen konnte, dass du zu mir kommen würdest, habe ich mich kurz entschlossen auf den Weg zu dir gemacht.«

»Ich wollte mich gleich morgen bei dir melden«, stammelte sie.

»Das ist nun nicht mehr nötig«, brummte er. »Willst du mich nicht hereinbitten?«

»Entschuldige«, antwortete sie und trat zur Seite. »Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«

»Einen Tee, wenn es keine Umstände macht.«

Albion gesellte sich zu ihr in die Küche, während sie den Wasserkocher füllte und die Schälchen aufs Tablett stellte.

Sie lächelte unschuldig. »Ich bin so froh, dass du wieder frei bist.«

»Und ich bin froh, dass du aus dem künstlichen Geist entkommen konntest«, erklärte Albion viel zu ruhig. »Auch wenn mir schleierhaft ist, wie du dort überhaupt hineingeraten konntest. Willst du mich nicht aufklären?«

»Vielleicht sollten wir uns erst einmal hinsetzen.«

»Wie du meinst«, entgegnete er und folgte ihr.

Estella stellte ein Schälchen vor Albion und eines vor sich, überprüfte die Zeit für den Tee und schüttelte die Sofakissen noch eben auf.

»Bauschiger werden sie nicht mehr«, sagte Albion.

»Bitte?«

Er deutete auf das Kissen in ihren Händen. »Das Teil da ist am Ende seiner Möglichkeiten angelangt. Alles, was du jetzt noch unternimmst, ist vertane Liebesmüh.«

Sprach der Meister der Ablenkung!

»Vielleicht lege ich beim nächsten Mal Debussy auf«, versetzte sie.

»Wird nichts nützen«, entgegnete er.

»Was nützt denn etwas?«

»Die Wahrheit. Also! Erzählst du sie mir?«

Kam sie drum herum?

»Nachdem du dich morgens auf den Rückweg nach Berlin gemacht hattest, beschloss ich, bei meinem Elternhaus, das ich nach dem Tod meines Vaters nicht mehr gesehen hatte, vorbeizufahren. Es bot sich an, da ich ohnehin in Bielefeld war. Als ich dort ankam, fand ich allerdings nicht das Ehepaar vor, dem ich das Haus vor Jahren vermietet hatte, sondern einen Sender und einen Clinicianer. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei Marvin um einen Urschattenträger.«

»Und da hast du einfach so beschlossen, eine nicht genehmigte Urschattenbehandlung vorzunehmen.«

»Raymond, sein Partner, hatte es Jahre zuvor selbst versucht. Er war der Sender, der anschließend drei Wochen im Koma lag.«

»Und das machte dich nicht misstrauisch?«, fragte Albion.

»Nein«, gab Estella kleinlaut zurück.

»Kam dir niemals die Idee, es könne sich um eine Falle handeln?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich dachte, du würdest deinen Kopf zu mehr benutzen als zum Haareschneiden!«

Ihr Trotz meldete sich. »Wie sollte es sich denn dabei um eine Falle handeln? Der Jemazur ist wieder in seiner Heimatdimension. Die Abtrünnigen haben kein Interesse mehr an mir. Selbst wenn –. Woher sollten sie denn wissen, dass Marvins Urschatten in Wirklichkeit ein Mochthiria war? Oder hast du es gewusst?«

»Nein«, gab er unwillig zu. »Wir alle dachten, es sei ein ganz normaler Urschatten.«

»Siehst du. Außerdem wusste ich doch gar nicht, dass ich bei meinem Elternhaus landen würde. Es war eine spontane Entscheidung.«

»Trotzdem kein Grund, eine spontane Urschattenbefreiung zu versuchen

Was hätte sie denn tun sollen? Den Rat um Erlaubnis fragen?

»Du hast befürchtet, wir würden es dir verbieten, nicht wahr?«, vermutete Albion richtigerweise. »Da hast du beschlossen, Tatsachen zu schaffen. Mädchen, was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Die beiden waren so sympathisch. Und sie liebten einander so sehr. Ich wollte ihnen ein normales Leben ohne Urschattenkoma ermöglichen. Ist das denn so verwerflich?« Gegen Estellas Willen füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Ist schon gut«, sagte Albion, nun etwas sanfter, »aber du kannst nicht immer nur mit deinem Herzen entscheiden. Du musst auch deinen Verstand benutzen.«

»Ich weiß«, schniefte Estella.

»Rede einfach beim nächsten Mal mit mir. – Vorher! – Und jetzt würde ich gerne deine Geschichte zu Ende hören.«

Nachdem sie fertig war, betrachtete Albion sie eine Zeitlang schweigend.

»Du warst gut«, bemerkte er. »Beinahe wäre es dir gelungen, mich zu täuschen.«

»Dich zu täuschen?«, wiederholte Estella. Sie hielt ihre Barriere geschlossen und ihre Gesichtszüge unter Kontrolle, obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug.

»Deine Gefühlsemissionen bewegten sich auf einem absoluten Normalpegel«, sagte Albion. »Als du von deinen Erlebnissen mit Neikos erzähltest, waren deine Gedanken zwar aufgewühlt, aber du warst nicht panisch. Selbst körperliche Nähe lässt du zu, obwohl mir schleierhaft ist, wie du sie aushältst. Dennoch konnte ich in deinen Emotionen lesen wie in einem Buch, als du an diese spezielle Stelle kamst, die du ganz bewusst ausgelassen hast.«

Estella wandte sich ab. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.

»Ich frage nicht aus platter Neugier, das weißt du«, sagte Albion. »Aber du darfst dieses Erlebnis nicht allein mit dir herumtragen. Selbst für jemanden wie dich ist das, was Neikos dir angetan hat, zu schrecklich, um es einsam in aller Stille zu verarbeiten.«

»Du weißt es?«, flüsterte Estella.

»Er hat deinen Geist geschändet, nicht wahr? Das ist ihre Art, sich zu rächen. Auf diese Weise trachten sie danach, ihre Feinde zu zerstören.«

»Er ist in mich eingedrungen, Albion. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Er hat –.« Estella vermochte nicht weiterzusprechen. Erfolglos bemühte sie sich, ihre Tränen zurückzuhalten.

Albion setzte sich neben sie auf das Sofa. Unbeholfen tätschelte er ihr den Rücken.

Aus geröteten Augen blickte sie ihn an. »Es war, als würde seine Bosheit jede einzelne meiner Körperzellen durchdringen. Er ließ mich schmutzig und missbraucht zurück. Ich kann mich nicht reinigen. Seine Verderbtheit gelangte zu tief in mein Selbst.«

»Ich weiß, Mädchen. Du kannst da kaum etwas machen. Aber vielleicht kann dir jemand anders helfen.«

Wenn er es vorschlug, dann bestand Hoffnung. Sie wusste nicht, wo sie sich lassen sollte vor Erleichterung.

»Hättest du denn die Zeit?«, fragte sie. »Ich würde für die Sitzungen auch zu dir kommen.«

»Für dich würde ich mir alle Zeit der Welt nehmen, doch ich sprach eigentlich nicht von mir.«

»Bitte?«

»Dein Erinnerungsführer. Er hat doch auch deine Gefühle für Jean gelöscht.«

Natürlich! Warum war sie darauf nicht selbst gekommen? Die Erinnerung an die Geistesschändung würde bestehen bleiben, aber die Panikattacken würden aufhören und auch der Druck auf der Brust würde verschwinden.

Fast hätte sie Albion umarmt. »Dich schickt der Himmel.«

»Na, na, Mädchen. Nicht übertreiben.«

Sie war bereits mitten in der Planung. »Ich muss noch bis heute Nacht warten. Spätestens dann hat der Fließende meine Innenwelt verlassen und Max kann mir helfen.«

»Warte noch einen weiteren Tag«, sagte Albion.

»Wieso?«

»Zur Sicherheit.«

Er hatte diesen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie kannte diese Miene. Albion verheimlichte ihr etwas.

»Was ist los?«

Seine Barriere blieb undurchlässig, seine Gesichtszüge unbewegt.

»Bitte, Albion!«

Er zögerte. Er kämpfte mit sich. Schließlich gab er sich geschlagen. »Der Fließende wird nicht fortgehen.«

Was erzählte er da? Natürlich würde Fjorr ihre Innenwelt verlassen. Wenn er es nicht tat, würde er sterben.

»Er wird es nicht tun, weil er es nicht kann«, sagte Albion. »Die Abkömmlinge von Fließenden können den Dimensionsübergang erst bewältigen, wenn sie das Kindheitsstadium überwunden haben.«

»Soll das heißen, Fjorr wird sterben?«

Albions Schweigen war Antwort genug.

Deswegen der eine Tag Reserve. Albion wollte ihr den Anblick des sterbenden Fließenden ersparen.

Sie ließ Albion keine Chance, einzuschreiten. Ohne Ankündigung versenkte sie sich in ihre Innenwelt.

Sie fand Fjorr in der Landezone. Er lag direkt vor dem Ausgang.

Sie rannte zu ihm und kniete sich neben ihn auf den Boden.

»Fjorr!«

Er reagierte nicht. Sein Körper lag da, als hätte es ihm das Leben bereits herausgesaugt, den letzten Funken Leben, der wertvoller war als alles Gold der Welt.

Sie musste etwas tun, musste versuchen, ihn irgendwie wiederzubeleben, doch sie wusste nicht, wie.

Sie legte ihm die Hand auf seine kleine Brust.

»Es tut mir so leid, dass ich dich verlassen habe. Du hast mir vertraut.« Tränen rannen ihr über die Wangen. Mit der freien Hand wischte sie sie fort und starrte weiter auf den leblosen Körper.

Die Ahnung, es könne zu spät für seine Rettung sein, schlich sich in ihren Verstand. Sie schob sie weg. Sobald sie sich damit abfand, würde es geschehen, das Unvorstellbare, Unaussprechliche. Also ließ sie die Hand auf Fjorrs Brust und verbannte ihre Furcht hinter die Linien.

Ein kaum spürbares Zittern lief durch Fjorrs Leib. Sie wagte nicht zu hoffen. Und doch!

Endlich öffnete er die Lider.

Seine Stimme klang dünn. »Wir wussten, sie würde zu uns kommen.«

Sie schlang die Arme um seinen kleinen Körper, der ganz ausgemergelt war.

»Ich habe dich verraten. Es tut mir so leid.«

Er wurde ganz ruhig und wirkte so weise, wie nur Kinder es können. »Sie ist hier, bevor es zu Ende geht. Das ist alles, was wir wollten.«

Sie wusste nicht, wie sie es ertragen sollte, ihn sterben zu sehen. Nicht dieses unschuldige Kind, das nur benutzt worden war – auch von ihr.

»Es muss eine Möglichkeit geben, dich zu retten«, flehte sie.

Er schüttelte seinen kleinen Kopf. »Hier gibt es keine Nahrung für uns und überwechseln können wir nicht.«

»Du kannst meine Emotionen haben.«

»Es wird nicht funktionieren. Wir können sie in dieser Form nicht aufnehmen.«

»Dann sag mir, wie sie sein müssen.«

»Sie müssen für uns sein. Nur für uns.«

Angst! Sie musste Angst vor ihm empfinden. Vielleicht konnte er die Nahrung so verarbeiten.

Sie schloss die Augen und stellte sich ihn als Flammenwesen vor. So, wie er gewesen war, als er sie den Turm hinaufgetrieben hatte.

Aber so war er doch gar nicht gewesen. Unsicher war er gewesen – und verletzt. Aber doch nicht böse und hasserfüllt.

Sie rief sich zur Ordnung, zwang sich, sich vor ihm zu fürchten, verstärkte die Emotion und sandte sie zu ihm.

»Es hat keinen Zweck«, hörte sie ihn sagen, »wir können uns an ihnen nicht nähren.»

»Ich versuche es noch einmal.«

»Nein«, antwortete er. »Wir möchten die anderen Gefühle.« Nun war es nur noch ein Flüstern. »Ein einziges Mal möchten wir die anderen Gefühle.«

Sie sah auf das Häuflein Leben vor sich, auf das kleine Gesicht, die silbrige Schattenfigur, deren Haut ganz stumpf aussah.

Der kleine Kerl hatte sich nur nach ihrer Freundschaft gesehnt, nachdem er in ihrer Innenwelt zurückgelassen worden war, um sie zu manipulieren. Als sie ihn verriet, hatte er ihr die Raubtiere auf den Hals gehetzt und jedes außer Gefecht gesetzt, bevor es Estella auch nur eine Schramme zufügen konnte. Sie wusste nun, dass er es gewesen war. Er hatte sie beschützt. Vor seinem Hass, vor seinem Zorn, vor sich selbst.

Zärtlichkeit, Freundschaft, Zuneigung. Das alles fühlte sie. Sie nahm es und sandte es zu Fjorr. Wenn sie sein Ende nicht verhindern konnte; wenn er wirklich gehen musste, dann würde er es in ihre Freundschaft gehüllt tun.

Er seufzte. Ein friedlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.

Ein Schluchzen wollte sich ihrer Kehle entwinden. Sie presste es dahin zurück, woher es gekommen war. Weinen konnte sie, wenn es überstanden war, doch jetzt würde sie Fjorr zur Seite stehen. Und so hielt sie den Strom aufrecht.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie neben Fjorr gekniet hatte, als ein winziges Strahlen durch seinen Körper lief. Bildete sie es sich nur ein, oder glänzte seine Haut ein kleines bisschen silbriger? Wirkte sein Leib ein bisschen fülliger?

Seine Lider flackerten. Er öffnete die Augen. »Estella?«

»Ich bin hier.« Sie nahm den kleinen Körper hoch und hielt ihn sanft umschlungen. »Ich bin hier bei dir.«

Er war so leicht. Sie spürte sein Gewicht kaum auf dem Weg zum Transportstrahl.

»Halte durch, mein Kleiner!«, flüsterte sie.

Der Transportstrahl trug sie hinab. Estella presste Fjorr an sich und murmelte beruhigende Worte. Es schien ewig zu dauern, bis sie die neunte Ebene erreichten.

Estella hatte keine Ahnung, wie sie Fjorr zum Hort des Wissenshüters bringen sollte. Sie konnte ihm doch nicht die Krallen des Mäusebussards in seinen zarten Körper schlagen.

Max hatte letztens dieses eiförmige Luftgefährt gesteuert. Sie musste versuchen, es zu visualisieren. Behutsam legte sie Fjorr auf die Erde, brachte sich in Position und konzentrierte sich.

Ein Energiestoß traf sie und wirbelte sie durch die Luft. Hart landete sie ein paar Meter weiter auf dem Boden. Über ihr ragte eine schmale Gestalt in einer hellen Robe auf, das Gesicht wutverzerrt.

Worte, schwer wie Steinquader, donnerten auf sie herab. »Wage es nicht, dich einzumischen. Er ist mein. Du besitzt kein Recht an ihm.«

Sie rappelte sich hoch und stellte sich Neikos‘ Wissenshüter in den Weg. »Fjorr ist mein Freund. Ich werde ihn dir niemals überlassen. Wenn du ihn haben willst, musst du an mir vorbei.«

Seine Mundwinkel verzogen sich abfällig. »Nichts leichter als das.«

»Hallo Tantalos!«, ertönte es hinter ihr. Manni kam näher. »Wie ich sehe, hast du es letztlich doch noch geschafft.«

»Kein Grund, so überheblich zu sein«, antwortete Neikos‘ Wissenshüter. »Du hast deine Seele ebenso verkauft wie ich meine. Nur an eine andere Partei.«

»Nicht alle von ihnen sind gut, das gebe ich zu. Dennoch sind sie die bessere Wahl«, sagte Manni.

»Aber sicher«, antwortete Tantalos. »Deswegen verheimlicht ihr den Wissensträgern auch alles, was für sie wichtig ist. – Und nun übergib mir den Schatten. Er ist der Abkömmling von Neikos‘ Untertan. Daher gehört er mir.«

»Nein!«

»Dann wird das hier gleich sehr hässlich werden.«

Manni hielt neben Estella an. »Lass ihn selbst entscheiden. Abkömmlinge sind an Pakte, die das Original geschlossen hat, nicht gebunden. Gleichgültig, welche Seite er wählt, weder du noch ich besitzen die Macht, uns über seine Entscheidung hinwegzusetzen.«

Tantalos zögerte. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Er nickte widerwillig und streckte die Hand nach Fjorr aus, der sich wieder in Estellas Arme geflüchtet hatte.

»Komm mit mir! Ich kann dich nähren. Ich kann dich schützen. Bei mir wirst du überleben.« Er deutete auf Estella. »Bei ihr wirst du sterben!«

Alles in Estella drängte sie, Fjorr festzuhalten, ihn zu behüten vor diesem Schergen, der sich für Neikos verdingte. Tantalos würde Fjorr die Unschuld nehmen, würde seine wunderbare Seele verderben, würde ihn zu Neikos‘ Werkzeug machen.

Flehend blickte sie zu Manni, doch er schüttelte nur traurig den Kopf.

Das Herz wollte ihr in der Brust zerreißen, als sie erkannte, dass Manni recht hatte. Sie durfte diese Entscheidung nicht für Fjorr treffen. Es musste seine bleiben.

»Es ist in Ordnung, mein Kleiner«, flüsterte sie. »Geh ruhig. Ich werde dich immer liebhaben.«

Sie öffnete die Arme und gab Fjorr frei.

Sein Blick heftete sich auf Tantalos, der die Hände immer noch nach ihm ausstreckte und gewinnend lächelte.

»Es ist in Ordnung«, sagte Estella noch einmal und ließ ihre Zuneigung zu Fjorr fließen. »Du musst leben. Das ist alles, was zählt.«

Fjorr starrte immer noch auf Tantalos. Seine Miene zeigte keine Regung. Unvermittelt wandte er sich von ihm ab und presste sich an Estellas Körper.

»Damit ist es entschieden«, sagte Manni.

Hass, getarnt als Verachtung, barst Tantalos aus den Augen. »Glaubst du wirklich, du könntest die Uhr zurückdrehen?«

»Ich nicht«, Manni wies auf Fjorr, »aber er kann es.«

Diesmal konnte Tantalos den Hass nicht verbergen. »Ich werde ihn bekommen. Und ich werde sie bekommen. Es ist eine reine Frage der Zeit.«

Er schnippte mit den Fingern und löste sich in Luft auf.

»Tantalos liebt den großen Abgang, doch es geht auch weniger dramatisch«, sagte Manni.

Ganz unspektakulär landeten sie im Untergeschoss seines Refugiums. Estella trug Fjorr zur großen Glaswand vor ihrer Herzenskammer und konzentrierte sich auf die Tür.

Manni versperrte ihr mit dem Arm den Weg. »Es würde ihn umbringen. Deine Liebe wäre zu stark.«

»Dann sage mir, was wir tun können!«

»Ich werde ihn mit Nahrung versorgen.«

Er konnte es? Aber warum hatte er es dann nicht längst getan?

»Ich hätte Fjorr niemals auf unsere Seite ziehen können. Er musste sich für dich entscheiden. Nur so ging es.« Manni setzte sich auf die Liege, nahm Fjorr von ihr entgegen und ließ positive Emotionen zu ihm fließen.

Sie verstand es nicht. Bedeutete es, dass Manni ebenso Zuneigung für Fjorr empfand wie sie?

Ohne aufzublicken, erklärte der Wissenshüter: »Ich lasse nicht meine Liebe zu ihm fließen, sondern deine.« Er erkannte wohl, dass sie ihm überhaupt nicht folgen konnte. »Ich kann die Essenz deines Wesens in mir speichern und an andere wieder abgeben. Da du eine große Zuneigung für ihn empfindest, ist die Emotion nur für ihn und er kann sie als Nahrung nutzen.«

Fjorr wachte auf. »Estella?«

Manni bettete Fjorr auf die Liege. Estella setzte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seinen kleinen silbrigen Schattenkörper. »Danke, dass du dich für mich entschieden hast. Wie fühlst du dich?«

»Wir möchten nicht mehr Fjorr heißen. Wir möchten einen anderen Namen.«

Sie lächelte. »Du kannst dich nennen, wie du willst.«

»Wir möchten, dass sie einen Namen für uns aussucht.«

»Das ist eine große Ehre für mich.« Sie brauchte nicht lange zu überlegen. »Als der andere Fjorr versuchte, mich zu beeinflussen, Neikos nach Phyteria zurückzubringen, verwandelte er sich in einen meiner Freunde.«

Der Fließende zögerte. »Es war der junge Mann, der mit dir unter dem großen Baum saß.«

Sie lächelte. »Das war Ben. Einst habe ich ihn verraten, obwohl ich ihn sehr gern habe, genau wie dich. Vielleicht möchtest du so ähnlich heißen wie er. Und vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen. Das wäre sehr schön.«

»Wir haben ihr bereits verziehen. Weiß sie das denn nicht?«

»Ich habe es gehofft. – Dann nenne ich dich in Zukunft Benn?«

Er nickte. »Wird sie uns besuchen?«

»Natürlich. Aber bis dahin wird es etwas dauern. Ich habe in meiner Welt ziemlich viele Pflichten.«

Er lächelte nun ebenfalls. »Wir werden auf sie warten. Und dann spielen wir ›Verstecken‹. – Aber fair!«

Sie strich ganz zart über seine Seite. »Ja, diesmal spielen wir fair.«

* * * Ende de Leseprobe.* * *

Copyright Dominique Clarier

 

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